Wir haben ein geteiltes Verhältnis zu Zucker. Ist Zucker per se gesundheitsschädlich, kommt es ausschließlich auf die Menge an steht Zucker vollkommen zu Unrecht am Pranger? Die Wahrnehmung von Zucker in der Öffentlichkeit und in der Medizin hat sich in den letzten Jahrzenten definitiv stark gewandelt. Man ist sensibler geworden, sowohl was den natürlichen Zuckergehalt von Lebensmitteln betrifft, aber auch wie mit Zusatz von Zucker umgegangen wird.
WHO empfiehlt maximal 5–10 Teelöffel
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt eine maximale Aufnahme von 5–10 Teelöffel freien Zuckers pro Tag. Dieser Empfehlung schließt sich auch die AHA (American Heart Association) und die DGE an.1,2
Es geht hier um jede Art von Zucker, sowohl zugesetzter als auch natürlich vorkommender Zucker. Leider liegen wir in Europa weit über dieser Maximalempfehlung. Im Schnitt nimmt jeder Europäer ca. 22 Teelöffel Zucker pro Tag zu sich, das entsprich einer Jahresmenge von stolzen 32,5 kg.
Wir essen also deutlich mehr Zucker als allgemein als empfehlenswert angesehen wird. Doch welche Konsequenzen hat der übermäßige Zuckerkonsum tatsächlich für unsere Gesundheit und warum ist es so schwer den Zucker zu meiden?
Zucker ist raffiniert
Zucker ist überall. Es geht nicht nur um die „üblichen“ Verdächtigen, wie Süßigkeiten und Schokolade. Zucker hat den Weg in viele Lebensmittel gefunden, in denen man auf den ersten Blick keinen Zucker vermuten würde. Wurst, Käse, Joghurt, Pizza und Saucen. Zucker ist günstig und er schmeckt uns. Zucker macht uns hungrig und er macht, dass wir mehr essen als wir eigentlich benötigen. Zucker lässt den Blutzucker ansteigen und der Körper schüttet das Hormon Insulin aus. Insulin wird in der Bauchspeicheldrüse gebildet und seine wichtigste Aufgabe ist die Regulation des Blutzuckers, genauer gesagt die Senkung des Blutzuckers. Insulin sorgt dafür, dass der Zucker aus dem Blut so rasch wie möglich in den Zellen landet. Warum ist das wichtig? Ein erhöhter Blutzuckerspiegel macht allerhand Probleme in unserem Körper. Aus diesem Grund findet eine strenge Regulation des Blutzuckers statt, der in einem engen Normbereich gehalten werden muss. Ist der Blutzucker ständig erhöht, reagiert er mit Körperzellen und verändert diese unwiderruflich. Dieser Vorgang wird als Verzuckerung (Glykosylierung) bezeichnet und wird u. a. als Biomarker für den Alterungsprozess herangezogen. Die dabei entstehenden Verzuckerungsprodukte nennt man AGEs (Advanced Glycation Endproducts).
Je mehr Verzuckerung umso schneller schreitet die Zellalterung voran, denn verzuckerte Moleküle sind nicht mehr funktionsfähig, fördern Entzündung3
und nehmen Einfluss auf zahlreiche Signalwege in unserem Körper. Der Verzuckerungsvorgang ist dauerhaft und führt zu irreversiblen Schäden. AGEs sind unlösliche Verbindungen, die sich langsam im Gewebe anreichern und sowohl Struktur als auch Funktion beeinflussen.
Effekte von AGEs:
- Erhöhten die Durchlässigkeit von Blutgefäßen (vasculäre Permeabilität)
- Erhöhten die arterielle Steifheit (verminderte Flexibilität der Blutgefäße)
- Hemmten die Erweiterung der Blutgefäße, da es die Wirkung von Stickstoffmonoxid beeinflusst (Bluthochdruck)
- Führten zur Ausschüttung von Entzündungsfaktoren (z. B. Zytokine)
- Verstärkten oxidativen Stress – vermehrte Bildung von freien Radikalen (ROS) AGEs fördern die Bildung von Sauerstoffradikalen (ROS). Die Aufnahme von Zucker selbst stimuliert die Bildung von freien Radikalen über diverse Regelmechanismen.4 So konnte nachgewiesen werden, dass bereits die Aufnahme von 75 g Glukose (etwa die Menge, die man in zwei Dosen Limonade findet) zu einem signifikanten Anstieg von freien Radikalen im Blut führt.5
Stärke- und zuckerreiche Mahlzeiten tragen wesentlich zur Entstehung von AGEs sowie freien Radikalen bei und somit zu vermehrter Entzündung im ganzen Körper.
HbA1c
Der Langzeitblutzucker, auch HbA1c genannt, ist nichts anderes als eine Angabe, wie viel Prozent des roten Blutfarbstoffes (Hämoglobin) bereits verzuckert sind. Der HbA1c gibt einen guten Richtwert dafür, wie hoch der Blutzucker in den letzten 8 bis 12 Wochen war. Normalbereich: 4,4–6,5 %.
Insulinresistenz und Entzündung, ein Teufelskreis
Insulinresistenz und chronisch erhöhtes Insulin ist einer der stärksten Faktoren für die Vorhersage von chronischen Krankheiten (Zivilisationskrankheiten) – insbesondere von Herz-Kreislauferkrankungen.6
Insulinresistenz bedeutet, dass die Zellen weniger gut auf das Hormon Insulin reagieren. Also, die Sensitivität für Insulin abnimmt. Die Folge ist, dass der Körper immer mehr und mehr Insulin ausschütten muss, um den Blutzucker in einer normalen Bandbreite zu halten. Erst wenn die Resistenz so weit fortgeschritten ist, dass der Körper sie nicht mehr kompensieren kann, steigt der Blutzucker über den Normbereich an und erst dann erhält der Patient, in den meisten Fällen, die Diagnose Diabetes. Die Insulinresistenz beleibt somit oft viele Jahre unerkannt.
Insulinresistenz und Entzündung sind ein wesentlicher Dreh- und Angelpunkt für die Entstehung der meisten sogenannten Zivilisationskrankheiten, und es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Insulinresistenz und der Aktivierung von Entzündungsprozessen. Zucker und einfache Kohlenhydrate haben von allen Nährstoffen, den größten Effekt auf den Blutzucker und auf die Ausschüttung von Insulin. Möchten Sie Einfluss auf den Teufelskreis von Entzündung und Insulinresistenz nehmen, dann ist es das naheliegendste Zucker und einfache Kohlenhydrate zu reduzieren.
Warum ist es so schwer auf Zucker zu verzichten
Sicherlich haben Sie auch schon mal versucht weniger Zucker zu essen. Dann wissen Sie auch, dass es gar nicht so einfach ist. Zucker begegnet uns überall und Zucker beeinflusst uns auf vielen verschiedenen Ebenen. Starke Blutzuckerschwankungen begünstigen Heißhungerattacken und es setzt die natürliche Regulation von Hunger und Sättigung aus. Zusätzlich verhindert das Hormon die Fettverbrennung. So sind wir den ganzen Tag auf der Blutzuckerachterbahn gefangen und bauen Fettreserven eher auf statt ab.
Zucker aktiviert auch, wie kein anderes Lebensmittel, unsere Belohnungszentren im Gehirn. Zuckerhaltige Lebensmittel stimulieren Gehirnbereiche, die auch bei Suchtmittelkonsum stimuliert werden – sogar ähnliche Entzugserscheinungen konnten beobachtet werden.7
Der kurzfristige Energieschub, verbunden mit der Aktivierung der Belohnungszentren macht den Zucker durchaus zu einem problematischen Lebensmittel. Die natürliche, unbewusste Kontrolle des Essverhaltens wird außer Kraft gesetzt.
Die Bedeutung von Insulin lange unterschätzt
Die negativen gesundheitlichen Effekte von Zucker und Kohlenhydraten sind untrennbar mit der Wirkung von Insulin verbunden. Besonders in den letzten Jahren hat sich die Studienlage dahingehend verdichtet, dass Insulin unzählige Signalwege in der Zelle beeinflusst und es große Unterschiede hinsichtlich der Ausprägung dieser Effekte zwischen normalgewichtigen und übergewichtigen Menschen gibt.
Eine Forschergruppe der Universität Boston, Massachusetts, konnte zeigen, dass eine einzige kohlenhydratreiche Mahlzeit zu erhöhtem Stress in den Zellen und zu einer Verringerung der antioxidativen Kapazität führte.8
Dr. Benjamin Bikman und Dr. David Ludwig von der Harvard Medical School machten erst kürzlich eine noch spannendere Entdeckung. Sicher haben Sie auch schon von dem Mythos gehört, dass alle Lebensmittel gleich zu behandeln sind und es ausschließlich auf die Menge der Kalorien ankommt. Die Studie von Dr. Bikman und Dr. Ludwig zeigt deutlich, dass dem nicht so ist, sondern dass die Art des Lebensmittels bestimmt, was mit der aufgenommenen Energie geschieht. Sie konnten zeigen, dass bei einer kohlehydratreichen Mahlzeit die Weichen des Stoffwechsels hin zu Fetteinlagerung gestellt werden und die Energiegewinnung in den Zellen reduziert ist.9
Weniger Zucker tut uns allen gut
Natürlich gilt auch bei Zucker der vielzitierte Spruch von Paracelsus, dass alleinig die Dosis das Gift macht. Doch hinsichtlich der rapide ansteigenden chronischen Erkrankungen (u. a. die Epidemie an Übergewicht und Diabetes), ist es sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass wir die Dosis wohl weit überschritten haben. Zuckerreduktion ist eine der wirkungsvollsten, kostengünstigsten und gleichzeitig auch einfachsten Maßnahmen, die jeder von uns treffen kann, um einen großen Beitrag zur eigenen Gesundheit leisten zu können.
Quellen
1 Johnson, Rachel K., et al. "Dietary sugars intake and cardiovascular health a scientific statement from the american heart association." Circulation 120.11 (2009): 1011-1020.
2 Ernst JB. Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes Gesellschaft und Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Quantitative Empfehlung zur Zuckerzufuhr in Deutschland. Bonn, 2018
3 Glenn, J.; Stitt, A. (2009). "The role of advanced glycation end products in retinal ageing and disease". Biochimica et Biophysica Acta 1790 (10): 1109–1116.
4 Bonnefont-Rousselot, Dominique. "Glucose and reactive oxygen species." Current Opinion in Clinical Nutrition & Metabolic Care 5.5 (2002): 561-568.
5 Mohanty, Priya, et al. "Glucose challenge stimulates reactive oxygen species (ROS) generation by leucocytes." The journal of clinical endocrinology & metabolism 85.8 (2000): 2970-2973.
6 Shoelson, S. et al. 2006. Inflammation and insulin resistance. Journal of Clinical Investigation. 116, 7 (2006), 1793–1801.
7 Colantuoni, C., et al. "Excessive sugar intake alters binding to dopamine and mu-opioid receptors in the brain." Neuroreport 12.16 (2001): 3549-3552.
8 Istfan, Nawfal, et al. "Acute carbohydrate overfeeding: a redox model of insulin action and its impact on metabolic dysfunction in humans." American Journal of Physiology-Endocrinology and Metabolism 321.5 (2021): E636-E651.
9 Bikman, Benjamin T., et al. "A high-carbohydrate diet lowers the rate of adipose tissue mitochondrial respiration." European Journal of Clinical Nutrition(2022): 1-4.
Erschienen in:

Ausgabe Nr. 45 (Juli/Aug. 2022)
Zucker – weißes Gift oder doch ganz harmlos?
Klar, wir alle essen zu viel Zucker und einfache Kohlenhydrate. Aber warum eigentlich? Und was ist so schlimm daran? Die Biologin Julia Tulipan erklärt die Zusammenhänge.