Interview mit Dr. Andreas Raab
Hier ist der ausführliche fünfte Teil der Interview-Serie mit Dr. Andreas Raab über die „Hallmarks of Aging“. Im Fokus stehen diesmal die Mitochondriendysfunktion und die zelluläre Seneszenz – zwei zentrale Prozesse des Alterns, die eng miteinander verbunden sind.

Bernhard Sillich (BS): Herr Dr. Raab, willkommen zum fünften Teil unserer Interviewserie. Heute geht es um zwei Hallmarks, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich wirken, aber laut Forschung eng miteinander verbunden sind: die Mitochondriendysfunktion und die zelluläre Seneszenz. Beginnen wir mit den Mitochondrien – was genau ist ihre Rolle im Körper?
Mitochondrien – Die Kraftwerke unserer Zellen
Dr. Andreas Raab (AR): Mitochondrien sind winzige Zellorganellen, die man sich am besten als Kraftwerke der Zelle vorstellen kann. Sie wandeln die Energie aus unserer Nahrung – in Form von Glukose, Fettsäuren und Aminosäuren – in die universelle Zellenergie ATP (Adenosintriphosphat) um. Jede unserer rund 30 Billionen Körperzellen braucht Energie, um ihre Funktionen erfüllen zu können – ob Muskelzellen, Nervenzellen oder Immunzellen.
Die Mitochondrien übernehmen dabei nicht nur die Energieproduktion. Sie regulieren auch wichtige Prozesse wie den Zelltod (Apoptose), die zelluläre Differenzierung, den Stoffwechsel und die Reaktion auf Stress.
Was bedeutet Mitochondriendysfunktion?
BS: Was passiert, wenn diese Kraftwerke nicht mehr richtig arbeiten?
AR: Wenn Mitochondrien geschädigt sind oder in ihrer Funktion nachlassen – ein Phänomen, Was wir gegen das Altern tun können Die zwölf „Hallmarks of Aging“ Teil 5: Mitochondriendysfunktion und zelluläre Seneszenz – Wenn Zellen müde werden und ihre Pflicht vergessen | 17 das mit zunehmendem Alter verstärkt auftritt – spricht man von einer Mitochondriendysfunktion. Das ist vergleichbar mit einem Kraftwerk, dessen Generatoren nur noch auf halber Leistung laufen. Es entsteht zu wenig Energie, und gleichzeitig werden mehr Schadstoffe produziert – in unserem Fall sind das reaktive Sauerstoffspezies (ROS) oder auch freie Radikale.

Diese aggressiven Moleküle greifen Zellbestandteile an: Proteine, Lipide und auch die DNA. Dadurch entstehen weitere Schäden – ein Teufelskreis, denn auch die Mitochondrien selbst sind anfällig für Schäden durch freie Radikale.
BS: Gibt es typische Folgen einer Mitochondriendysfunktion?
AR: Ja, die gibt es. Ein Mangel an zellulärer Energie betrifft besonders Organe mit hohem Energiebedarf: Herz, Gehirn, Muskeln und Leber. Symptome können unter anderem Müdigkeit, Konzentrationsprobleme, Muskelschwäche oder eine verzögerte Regeneration sein. Langfristig kann die Mitochondriendysfunktion zur Entstehung von Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Typ-2-Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen beitragen.
Was können wir tun, um unsere Mitochondrien zu schützen?
AR: Die gute Nachricht ist: Mitochondrien sind trainierbar! Man kann sie sich ein wenig wie Muskeln vorstellen. Und ähnlich wie beim Sport funktioniert auch hier: Nutzen erhält Funktion.
1. Bewegung: Vor allem Ausdauertraining führt dazu, dass mehr und leistungsfähigere Mitochondrien in Muskelzellen gebildet werden – ein Prozess, den man Mitochondriale Biogenese nennt.
2. Kälte- und Hitzereize: Wechselbäder, Saunagänge oder Eisbäder können die zelluläre Stressantwort verbessern und zur Mitochondriengesundheit beitragen.
3. Fasten: Auch beim intermittierenden Fasten werden Prozesse wie die Mitophagie angeregt – also der Abbau defekter Mitochondrien. Das gibt Raum für neue, funktionstüchtige Kraftwerke.
4. Mitochondrienfreundliche Ernährung: Omega-3-Fettsäuren, Polyphenole (z. B. aus grünem Tee oder dunkler Schokolade), Q10 und bestimmte Vitamine (B2, B3, C und E) unterstützen die Funktion der Mitochondrien.
Zelluläre Seneszenz – Wenn Zellen in Rente gehen, aber nicht gehen wollen
BS: Kommen wir zur zweiten Hallmark dieses Teils: zelluläre Seneszenz. Was steckt hinter diesem Begriff?
AR: Eine seneszente Zelle ist vereinfacht gesagt eine alte Zelle, die sich nicht mehr teilen kann, aber dennoch aktiv bleibt. Normaler- 18 | reformleben 03/2025 weise ist das ein Schutzmechanismus: Wenn eine Zelle zu stark geschädigt ist – z. B. durch DNA-Schäden oder verkürzte Telomere –, geht sie in einen „Dauer-Ruhemodus“, um keine fehlerhaften Kopien mehr zu erzeugen.
Das Problem beginnt, wenn sich diese Zellen im Gewebe ansammeln – und das tun sie mit dem Alter. Sie sind wie Rentner, die nicht mehr zur Arbeit erscheinen, aber weiterhin am Schreibtisch sitzen und Kollegen stören. Denn seneszente Zellen geben entzündungsfördernde Botenstoffe (z. B. Interleukine, TNF-a) ab, die das umliegende Gewebe reizen. Man spricht hier vom SASP – dem SenescenceAssociated Secretory Phenotype.
Zombiezellen – Die stille Gefahr im Gewebe
BS: Man hört immer wieder von sogenannten „Zombiezellen“. Ist das nur ein Schlagwort oder steckt da mehr dahinter?
AR: Das ist tatsächlich ein treffendes Bild. Zombiezellen leben weiter, obwohl sie nicht mehr funktionsfähig sind, und schädigen gleichzeitig ihr Umfeld. Sie fördern Entzündungen, behindern Regeneration und erhöhen das Risiko für altersbedingte Erkrankungen.
Ein hoher Anteil seneszenter Zellen im Gewebe ist mit chronischen Erkrankungen wie Arthrose, Arteriosklerose, Diabetes, Osteoporose und bestimmten Krebsarten assoziiert.
Besonders perfide ist: Seneszente Zellen senden Signale aus, die benachbarte, gesunde Zellen ebenfalls in den Seneszenzmodus versetzen können. Das ist wie ein Virus, der sich im Gewebe ausbreitet – mit dem Unterschied, dass es hier kein Virus ist, sondern ein zellulärer „Pessimismus“, der sich überträgt.
Senolytika, Fasten und Bewegung – Was hilft gegen Zellseneszenz?
BS: Können wir diesen Prozess stoppen oder umkehren?
AR: Noch nicht vollständig, aber wir können ihn beeinflussen. Die Forschung arbeitet intensiv an sogenannten Senolytika – das sind Wirkstoffe, die gezielt seneszente Zellen entfernen können. Erste Studien zeigen vielversprechende Effekte – allerdings vorwiegend in Tiermodellen.
Was wir heute bereits tun können, ist Folgendes:
1. Fasten und Kalorienrestriktion: Fasten aktiviert Programme, die seneszente Zellen zur Apoptose bewegen oder ihre Botenstofffreisetzung dämpfen.
2. Körperliche Aktivität: Bewegung fördert die zelluläre Erneuerung, reduziert Entzündung und schützt das Gewebe.
3. Antioxidative Ernährung: Eine Ernährung mit viel Gemüse, Kräutern, Beeren und gesunden Fetten hilft, oxidative Stressoren zu reduzieren – ein zentraler Treiber der Seneszenz.
4. Schlaf und Stressmanagement: Chronischer Schlafmangel und Stress begünstigen Entzündungsprozesse und damit auch Seneszenz. Hier ist Schlafhygiene genauso wichtig wie emotionale Ausgeglichenheit.
Mitochondrien und Seneszenz – Ein unheilvolles Duo
BS: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den beiden Hallmarks?
AR: Einen sehr engen sogar. Dysfunktionale Mitochondrien produzieren mehr freie Ra- | 19 Artikel und mehr online Hier bestellen dikale, die DNA-Schäden verursachen – was wiederum Seneszenz auslöst. Umgekehrt hemmen seneszente Zellen die Autophagie und Mitophagie, sodass sich geschädigte Mitochondrien nicht mehr abbauen lassen.
Wir sprechen hier von einer negativen Rückkopplungsschleife, die das Altern auf Zellebene beschleunigt. Darum ist es so wichtig, beide Prozesse gemeinsam zu betrachten – und durch Lebensstilmaßnahmen zu beeinflussen.
Schlusswort
BS: Herr Dr. Raab, vielen Dank für diese tiefen Einblicke in zwei so komplexe und gleichzeitig relevante Mechanismen. Gibt es noch einen abschließenden Impuls für unsere Leserinnen?
AR: Ja – wir haben heute über „müde Zellen“ und „defekte Kraftwerke“ gesprochen. Aber das Schöne ist: Unsere Zellen hören nie auf, auf uns zu reagieren. Mit jedem gesunden Atemzug, jedem Schritt, jeder durchdachten Mahlzeit geben wir ihnen ein Signal: „Ich bin bereit, Verantwortung zu übernehmen.“ Und das ist der beste Anti-Aging-Impuls, den man setzen kann.
Im nächsten Teil unserer Serie widmen wir uns den Hallmarks: Stammzellenerschöpfung und Veränderte intrazellulare Kommunikation. Freuen Sie sich auf spannende Erkenntnisse und alltagstaugliche Empfehlungen.